Viel zu eng. Viel zu klein. Marie wird von ihrer Haut auf die Größe einer Eidechse zusammengepresst. Heiße, ölige Luft klebt an ihr, füllt ihre Lungen. Der Atem von Jörg zerteilt die Welt in Portionen, so wie er das schon seit zwölf Jahren tut, unregelmäßig serviert und unbekömmlich. Seit Jahren liegen sie in Maries Magen wie unverdauliche Brocken einer Mahlzeit, die sie viel zu hastig in sich hineingestopft hat. Rasender Hunger, der nicht nachgedacht hat. Hunger nach Leben. Hunger nach Lust. Hunger nach verzweifeltem Spaß, der sehr bald faulig und nach Erbrochenem gerochen hat. Eine Übelkeit, die von einem gelegentlichen Symptom zu einem Dauerzustand geworden ist. Da ist ein Traum von einem Weg ins Freie, den Marie kaum je zu träumen wagte. Aber da war nie ein Schlüssel, der sperrte.
Aber jetzt muss Marie den Ausgang finden. Die Tür, wohin sie auch immer führen mag. Schlüssel oder Brecheisen, egal, nur hinaus. Aus diesem Raum. Aus dieser Ehe. Aus dieser Hölle. Aus diesem Leben.
Der scharfe Ton von Jörgs Schnarchen kriecht in Maries Körper, kriecht hinein, penetriert sie, ungebeten, wie so oft. Sie möchte schreien, aber sie bleibt stumm. Es reicht ja kaum zum Atmen, es gibt keine Reserve mehr, mit der sie sich dem auf sie eindringenden Laut entgegenstellen könnte. Maries Gegenlaut. Maries Schrei. Maries Klagelied, das vor Jahrtausenden gedichtet und so oft ungesungen geblieben ist, weil die Luft zum Singen und Sagen, zum Schreien und meist nicht einmal zum Flüstern gereicht hat.
Es ist keine Entscheidung, die von Maries Verstand getroffen wird. Der Körper übernimmt. Der orangegeblümte Lungi klebt an Maries schweißnassen Körper. Fast unmöglich, sich zu bewegen in der glutheißen Luft, die dichter als Blei ist.
Sei ruhig, Marie. Benimm dich anständig. Marie, du bist so anstrengend. Du machst dich lächerlich, Marie.
Woher kannte Jörg die Sätze ihres Vaters? Hatten sich die beiden verschworen? Abgesprochen? Auf der Bühne in Maries Kopf tauchen Szenen auf und verschwinden wieder, wie in einem Fiebertraum, einem Drogenrausch, einer nahenden Ohnmacht. Gedankenprojektile werden aus Schützengräben abgefeuert, in denen die schießenden Soldatinnen alle Marie heißen.
Die Feste im Garten. Jörg, der im Mittelpunkt steht. Reden schwingt, wie sehr ihn das Volk braucht. Und wie er das alles richten wird. Und wie seine Freunde die Worte aus seinem Mund trinken. Und das irre rasende Gelächter, in das diese Monologe immer münden. Die gegrölten Lieder. Die verzerrten Fratzen. Die Echos der Sätze, die man nicht mehr vergisst und die sich dumpf in die Kopfschmerzen des nächsten Morgens eingehämmert wiederfinden. Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million. Der Geruch dieser Nächte. Nach verbranntem Fleisch. Bier. Schweiß. Pisse.
All das brandet durch Maries Kopf, während ihr Körper wie von einer Fernsteuerung gelenkt mechanisch einem Ziel entgegengezogen wird, das sie nicht kennt. Vorbei an den Zimmern, hinter deren Türen andere Paare andere Höllen ausleben. Oder Himmel? Oder ganz gewöhnliche Leben nahe der Nulllinie? Marie würde jedes dieser Leben eintauschen. Aber der Hauptgewinn, der wäre das eine Los, auf dem zu lesen ist: Exit. Für immer. Der Aufzug bringt Marie hinunter zur Bar, wo die Wellen von Musik und Geschrei die Brandung des Meers, das heute Morgen so unruhig war, hypertroph übersteigernd nachahmen.
Hinaus in die Nachtluft, die mit jedem Meter, den Marie zurücklegt ein bisschen weniger dicht, ein bisschen weniger glühend zu sein scheint. Wo ihr Körper sich wieder etwas mehr ausdehnen kann und sie sich mit gedankenfreier Selbstverständlichkeit über den Strand bewegt, wo noch immer die bunten Lichter der verzweifelten Feste den mondlosen Himmel in seiner Stille stören.
Mit den nackten Füßen versinkt Marie im Sand. Jeder Schritt eine kleine Anstrengung, aber das ist nicht unangenehm. Auch das dämpft das Denken, und die Bilder werden blasser. So wie in der Außenwelt der Lärm abebbt und die Lichter immer kleiner werden, wird es auch auf der Bühne in Maries Kopf leerer. Nur mehr Umbaulicht, aber es sind keine Bühnenarbeiter mehr da. Ein Schritt, der nächste Schritt. Dunkelheit. Ein paar Stecknadelsterne, die Akzente in das Dunkel setzen.
In kaum wahrnehmbaren Schattierungen: der Strand. Landwärts die Ahnung von Bäumen, ansteigendes Terrain, und auf der anderen Seite das Meer. Der Lungi ist schon längst von Marie abgefallen. Es gibt keine Schicht mehr, die sie trennt von der Dunkelheit. Die Grenze zwischen Marie und Dunkel, zwischen Marie und Welt ist nicht mehr so klar zu ziehen. Und das Meer will Marie werden und Marie das Meer.
Es ist beinahe völlig still. Innen und außen. Nur ganz leise rauscht die Brandung, und Marie fühlt die Präsenz des Meers wie eine wortlose Einladung. Und im Raum, der Marie heißt, taucht ein Wort auf: Genug. Endlich genug. Kein Drama. Kein Hass. Keine Trauer. Eine Müdigkeit vielleicht. Einfach: genug. Marie fühlt sich leicht, beinahe körperlos, und wenn noch etwas von Körper vorhanden ist, dann ist er jetzt auf dem Weg in die große nasse Umarmung. Das Gefühl von Genug breitet sich aus, je mehr Marie in das Wasser eintaucht, den Boden verliert und mit langsamen, stetigen Bewegungen dorthin strebt, wohin es sie zieht: In gerader Linie zum Zentrum des Meers, auch wenn sie nicht weiß, wo das sein soll, aber sie wird es wissen, wenn sie es erreicht und dort, das weiß Marie, darf es dann wirklich und endgültig genug sein. Versinken, um nie wieder aufzutauchen. Heilung vom Fieber der Welt.
Mag sein, dass schon eine Stunde vergangen ist, oder zwei, oder auch nur zehn Minuten. Die gewöhnliche Zeit hat längst geendet, und die Schwimmzüge mussten nichts mehr messen und berührten schon leise die große Abwesenheit. Aber jetzt ist etwas anders. Marie spürt, wie das Meer, das sie so ruhig aufgenommen hat, sich beginnt zu bewegen. Sanft, ohne Gewalt, aber mit der Kraft der Größe, die keine Anstrengung braucht. Es ist ein Wiegen, ein Willkommen heißen. Und Marie öffnet die Augen, die sie geschlossen hat, nachdem sie die ersten Schritte ins Wasser getan hatte.
Da ist ein Blau im Dunkel. Ein helles, ein zartleuchtendes Blau. Dort wo Marie sich bewegt, wo ihre Arme das Wasser verschieben, wird es stärker. Dort wo sich eine Woge bewegt in der Unendlichkeit, unterstreicht das Blau den Raum, als würden wichtige Stellen des ewigen, einzigen Buches mit einem Leuchtstift markiert. Mit ihren Bewegungen schreibt Marie an diesem Text mit. Das Leuchten der Bewegung des Meers und das Leuchten der Bewegungen Maries werden zu einem Tanz. Es braucht keine Choreografie. Jede Bewegung ist an ihrem Platz und in ihrer Zeit. Alles stimmt. Alles stimmt ein. Marie liegt am Rücken. Dann wieder unter Wasser. Sie überlässt sich etwas, das größer ist als sie. Oder jemandem.
Auch wenn sie die Augen schließt, bleibt das Leuchten. Auch wenn sie aufhört, sich zu bewegen, bleibt die Bewegung. Und noch immer keine Zeit. Immer jetzt. Immer hier. Immer Marie. Und immer der Tanz.
Marie spürt, dass da Grund ist. Das Meer hat Marie sanft in die Welt zurückgegeben, wie ein Baby, das von der Mutter an einen sicheren Ort gelegt wird. Der warme Sand. Das Wasser streichelt Maries Körper, wieder und wieder. Und auch Marie beginnt mit ihren Händen zu spüren, dass da wieder eine Marie ist. Dass es wieder einen Körper gibt. Eine Haut. Wärme und Leben unter dieser Haut. Weichheit und Festigkeit. Bewegung und Innehalten. Der Tanz mit dem Wasser setzt sich fort in einem Tanz der Empfindungen, ein Strömen von fleischgewordenem Licht. Die Orte in Maries Körper, die sich zurückgezogen hatten, weil sie nicht mehr spüren wollten, nicht mehr spüren konnten, kehren langsam zurück. Zuerst scheu wie junge Kätzchen, die unbeholfen in eine Welt hineinstolpern, die sie nicht kennen, und von der sie nicht wissen, was sie von ihr zu erwarten haben. Doch dann werden die vielen Kätzchen zu einer Tigerin, kräftig, mächtig, die zum Sprung ansetzt. Und Marie springt. Überlässt sich dem Fallen. Dem Schrei, der so alt ist, wie die Welt selbst. Und alles bricht aus den Kerkern der vergangenen Jahre heraus, Lust und Schmerz, ununterscheidbar. Ein einziges Meer an Marie, Marie, Marie, Marie. Tränen. Wellen von Lust. Ein Kollabieren in einen dimensionslosen Punkt und ein Ausdehnen in eine Weite ohne Grenzen. Ewigkeit. Tiefer, traumloser Schlaf.
Als Marie erwacht, taucht die Sonne aus dem Meer. Das Genug ist zu einem feinen Lächeln geworden. Zu einem Ja, das Zukunft will, auch wenn es noch nicht weiß, wie diese Zukunft werden wird. Morgen. In einem Jahr. Aber das ist nicht wichtig für Marie. Was klar vor ihr liegt, ist das Heute. Dieselben Füße bewegen sich durch denselben Sand. Aber die Richtung hat sich umgekehrt. Und die Welt.
Marie wird bewusst, dass sie nackt ist. Doch da ist keine Scham. Und als sie durch die Hotelanlage geht, in der schon zwei Gärtner in der Anlage ihre Arbeit tun, ist es wie im Garten Eden, am Anfang, wo noch keine Konzepte das Natürliche zu einer Sünde gemacht haben. Und wieder ist da dieses Lächeln. Nicht das Maskenlächeln der letzten Jahre. Nicht das Grinsen für ihn oder für sie. Marie ist das Lächeln, und das Lächeln ist Marie. Und das steckt an, und die Gärtner, die zuerst geradezu erschrocken waren und nicht wussten wie und wohin, lächeln zurück. Ohne zu fragen, ohne zu bewerten, ohne zu kommentieren.
Im Zimmer angelangt. Jörg schläft und Marie schlüpft in ein Kleid, nimmt das Wenige, was sie braucht, Pass, Geld, ihre Tasche, in die sie das Wenige, was aus diesem Leben mitreisen wird, hineinwirft. Lautlos und schnell. Und das Zimmer so leise verlässt, wie sie es betreten hat und die Türe schließt, verschwindet das Zimmer, verschwindet Jörg, verschwindet das alles, wovon Marie gedacht hat, dass es nun mal ihr Leben sei, das ihr Zugeteilte, ihr Angemessene. Das alles verschwindet im Schließen der Tür. Auch die Tür selbst.
„Flughafen.“ Wenn es je Wörter der Freiheit gab, dann diese: „Zum Flughafen, bitte.“
Marie wird abheben und in ein neues Leben fliegen. Es wird ein guter Flug werden. Nicht gänzlich frei von Turbulenzen. Einige raue Winde wird es geben. Wunden wollen noch einmal gespürt werden. Es wird wieder dunkel werden und wieder hell. Aber es wird Leben sein. Maries Leben. Maries Leuchten, das sie aus dem Meer mitgebracht hat. Das nie erloschen war, und das nie wieder verlöschen wird.
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